Im Garten mit Tim Lelaurain, Gärtner und Sozialpädagoge

20.06.2018 Cornelia Rumo Wettstein,
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Tim Lelaurain - Audio (mp3, 15.7 MB)

Es ist meine Überzeugung, dass die Arbeit auf dem Bauernhof und im Garten den Kindern guttut. Hin­ter den Verhaltensauffälligkeiten steht meist die vergebliche Suche nach einem Sinn. Warum muss ich zu meinem Lehrer anständig sein? Im Garten hat jede Tätigkeit einen Sinn, der erklärt werden kann, weil er sichtbar wird. Wenn ich nicht giesse, dann gehen die Pflanzen kaputt, deshalb muss ich es ma­chen, um später ernten zu können. Ich bin über­zeugt, dass die Arbeit auf dem Hof und im Garten bei den Kindern einen Heilungsprozess auslöst. Ich bin und bleibe Sozialpädagoge, aber ich lerne den Garten immer besser kennen. Ich bin kein vollkom­mener Gärtner, aber die Kombination «Gärtner und Sozialpädagoge» kann den Kindern den geeigneten Rahmen schaffen, in dem sie sich entfalten, in dem sie experimentieren können.

Von Frankreich in die Schweiz

Mit 16 habe ich ein Praktikum bei geistig behin­derten Menschen gemacht. Das hat mir gefallen, aber für die Ausbildung war ich noch zu jung. Ich kam von Frankreich in die Schweiz. Nach vier Jahren Wohngruppenbe­treuung im Heim Oberfeld zog es mich mit einem Arbeitskollegen und unseren Familien zurück nach Frank­reich, um Landwirt zu lernen und einen pädagogischen Hof zu eröffnen. Es hat nicht funktioniert, wir haben uns nicht gefunden mit den Leuten dort. So kam ich zurück ins Oberfeld, liess mich zum Sozialpädagogen aus­bilden und wurde Mitarbeiter der ers­ten Stunde im Pilotprojekt der Inten­sivwohngruppe für Kinder mit schwe­ren psychischen Beeinträchtigungen.

«Man muss die Produktion so gestalten, dass die Kinder spüren, ihre Arbeit ist wichtig, sonst hängen sie ab.»

Tim Lelaurain (40)
Gärtner und Sozialpädagoge, Heim Oberfeld, Marbach

Ort der Entfaltung

Seit zwei Jahren bin ich hier als Gärt­ner tätig. Als Sozialpädagoge sucht man mit dem Kind ständig nach Lö­sungen für seine Probleme. Im Gar­ten schafft man für das Kind einen Ort, wo es sich entfalten kann. Das ist eine ganz andere Aufgabe. Das Kind kommt, und das Problem, das es hat, bleibt «draussen». Ich kann ihm etwas geben, ein Vertrauen, das sich nur über das Tun aufbaut. Ich motiviere die Kinder,  fin­de heraus, wo sie gut sind und wo sie Verantwor­tung übernehmen. Der eine baut einen Rasenmä­her aus, der andere schaut zu den Pflanzen. Es tut ihnen gut, und ich bin dankbar, dass die Kinder und Jugendlichen mich bei meiner Arbeit unterstüt­zen.

Eineinhalb Tonnen Tomaten

Landwirtschaft und Garten dienen vorrangig pädagogisch-therapeutischen Zwecken. Das heisst, der Garten ist nicht in erster Linie ein Produktionsbetrieb, sondern eine Gärtnerei, die den Kindern vermittelt, was hier gedeiht, wie geerntet und wie das Gemüse zum Essen verarbeitet wird. Kinder und Jugendliche machen elementare Sinneswahrnehmungen, und sie legen so Hand an, wie es ihnen möglich ist, wie es ihnen guttut. Die Ausführung ist dann vielleicht nicht so, wie man sich dies in einer gewinnorientierten Gärtnerei vorstellt. So habe ich beispielsweise einer Gruppe den Auftrag gegeben, ein Salatbeet symmetrisch anzupflanzen. Später musste ich feststellen, dass man da mit der Hacke nie durchkommt, weil es keine gerade Linie gab. Das passiert mir ständig. Man muss die Produktion so gestalten, dass die Kinder spüren, ihre Arbeit ist wichtig, sonst hängen sie ab. Wir produzieren circa 30 Prozent unseres Eigenbedarfs an Gemüse und Früchten selbst. Im letzten Jahr haben wir eineinhalb Tonnen Tomaten geerntet. Der Garten muss an erster Stelle ein Lebensraum für die Kinder sein. Das hat auch für mich als Gärtner Priorität.

Gemüse auf dem Balkon

Momentan gibt es zwei Mittelstufenklassen und eine Oberstufenklasse, die Gartenarbeit im Stundenplan integriert haben. Die Idee ist, sie auf alle Klassen auszuweiten. Bestimmte Kinder kommen, weil sie einen Bezug zu mir haben. Sie helfen freiwillig, auch in der Freizeit, oder fragen den Lehrer, ob sie zu mir kommen dürfen. Einige haben einen Draht zum Gärtnern. Es gibt ein Mädchen, das pikiert für ihr Leben gerne. Ein anderes Mädchen pflanzt Gemüse auf ihrem Balkon – Blumenkohl, Auberginen, Tomaten. Der Heilungsprozess findet aber nicht nur bei den «interessierten» Kindern statt, sondern auch dort, wo das Kind in der Natur sein kann, beobachten lernt und sich dann Schritt für Schritt an eine Tätigkeit heranwagt.

Heim Oberfeld, Marbach (SG)

Die Sonderschule Heim Oberfeld ist eine Lern- und Arbeitsgemeinschaft. Sie bietet verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen von 6 bis 18 Jahren, mehrheitlich aus dem Kanton St. Gallen, individuelle Förderung und Betreuung. Die Betriebszweige Landwirtschaft und Garten ermöglichen pädagogisch-therapeutische Unterstützung.

Anerkennung ist Nahrung

Mit einer Klasse habe ich ein Kartoffelfeld bepflanzt, die Kartoffeln geerntet und ein Erntedankfest gefeiert. Das sind gute Projekte, denn sie helfen den Jugendlichen, in die Zukunft zu schauen. Ich muss zunächst planen, den ersten Schritt gehen, dann den zweiten, und am Schluss kann ich ernten. Die Anerkennung, das ist Nahrung für die Seele. Sie bringt die Jugendlichen dazu, immer weiter zu planen, denn sie wollen dieses Gefühl wiederhaben. Irgendwann machen sie daraus ein Ausbildungsprojekt, eine Lehre. Es ist eine unserer Aufgaben, die Kinder für die Arbeitswelt bereit zu machen. Hof und Garten bedeuten Lernen durch das Erfahren, das Tun. Diese Erfahrung fördert nicht zuletzt das schulische Lernen, macht den Zugang zu Lerninhalten einfacher.

Zusammen Mist schaufeln

Ich bin schon lange im Heim Oberfeld tätig, und die Kinder wissen, wie ich «ticke», dass ich eher streng bin und auch laut werden kann. Das macht es einfacher. Aber auch bei mir loten sie die Grenzen immer wieder aufs Neue aus, insbesondere die Kleinen. Ich muss immer eine Idee bereit haben. Ein kleiner Junge ist zu mir gekommen, weil er nie gelernt hat, zuzuhören. Ich habe zu ihm gesagt, wenn du nicht zuhörst oder nur Dummheiten im Kopf hast, schaufeln wir zusammen Mist. Sobald du zuhörst, ist der Mist zufrieden, und wir lassen ihn. Wir haben das zweimal gemacht, und dann war es gut. Ich kenne nicht alle persönlichen Geschichten, die hinter einem Kind stecken. Man muss herausspüren, was die Kinder brauchen. Viele von ihnen brauchen eine vertrauensvolle Führung und einen klaren, sicheren Rahmen. Sonst verlieren sie sich.

Garten als Stütze

Man muss die Arbeit stehen lassen können, vor allem in einer so vielfältigen Umgebung. Im Frühling arbeite ich mehr, bis alles wächst. Ich übernehme Verantwortung, deshalb kann ich nie ganz abschalten. Garten und Landwirtschaft sind Teil der Institution und im Konzept verankert. Trotzdem wird das Angebot vom Kanton weder als betriebsnotwendig erachtet, noch wird es in der Leistungspauschale angemessen berücksichtigt. Das heisst, die Institutionsleitung muss stets nach Lösungen suchen, wie das Angebot aufrechterhalten werden kann. Für das Heim Oberfeld ist die Einzelförderung im Betrieb ein wichtiges Element, um die Kinder und Jugendlichen in ihrem Aufwachsen zu unterstützen. Es wird alles darangesetzt, diesem Angebot Platz zu geben. Mein Beitrag als Gärtner ist es, innovativ mitzudenken und in Bewegung zu bleiben.

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