Archivierung als Gesundheitsvorsorge – Teil 1

13.05.2020 Rahel Jakovina,
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Der Mann war zu früh. Der Nachmittag der offenen Tür würde erst in einer halben Stunde beginnen. Aber der Mann brauchte Zeit. Zeit, bis er den Fuss ins «Huus am Schärme» setzen konnte. Zeit, um sich alles genau anzusehen. Und nach seinem Tritt über die Schwelle: Zeit zum Reden. Viele Jahrzehnte war es her, dass er als Junge in der Kinder- und Jugendinstitution gewohnt hatte. Vieles von damals war für ihn dennoch nie ganz zur Vergangenheit geworden. Es begleitet ihn weiterhin – als Erinnerungen, als Fragen, als Anliegen.

Umgekehrt war es anders: Im «Huus am Schärme» gab es nicht mehr viel von ihm. Ein Notizheftchen im Archiv, das eine Liste der Kinder enthielt, die eingetreten waren. Am Ende des Nachmittags war wieder mehr von ihm da. Seine Erinnerungen, von denen er der heutigen Geschäftsführerin der Stiftung Kinderheime Solothurn, Regina Giger, erzählt hatte. Im Gegenzug nahm er auch etwas mit. Neue Eindrücke, welche die seinen von früher ergänzten. Wissen um die Entwicklung seines ehemaligen Zuhauses. Er nahm aber auch einen Teil seiner Fragen und Anliegen wieder mit. Sie würden ihn weiterführen. Erst einmal bis zur nächsten Station, zur ehemaligen Heimmutter.

Menschen auf der Suche

Es ist nicht der grosse Ansturm. Aber immer wieder melden sich Menschen, die früher im «Huus am Schärme» oder in einem der anderen Häuser der Stiftung lebten. Sie möchten mehr erfahren über die Zeit ihres Aufenthalts, über die Umstände, über das Wie und Warum. Und sie möchten erzählen, von ihren Erlebnissen und von ihrer Sicht. Sie suchen das Gespräch zu den ihnen bekannten Mitarbeitenden, die noch da sind, und sie sichten die Unterlagen, die noch vorhanden sind.

Rückblick ist wichtig

Regina Giger ist es ein grosses Anliegen, Menschen, die sich melden, gut zu begleiten und deren Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte zu unterstützen. Sie nimmt sich deshalb Zeit für Gespräche und fürs Zuhören. Ausserdem achtet sie als Geschäftsführerin der Stiftung darauf, dass die Unterlagen von Kindern und Jugendlichen aufbewahrt werden und zur Verfügung stehen, wenn diese als Erwachsene an die Tür klopfen.

Die Begegnungen, die entstehen, sind oft eindrücklich. Kein Wunder, lehren uns doch Psychologie und Soziologie, wie wichtig die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit sein kann. Gemäss den Erkenntnissen von Aaron Antonovsky geht es um nicht weniger als um unsere Gesundheit. Für diese sind drei Dinge wichtig: Die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens. Je mehr Sinn wir im Leben sehen, je stärker wir überzeugt sind davon, dass wir Probleme bewältigen können und je besser wir verstehen, weshalb und wozu Dinge geschehen, desto besser geht es uns.

Die Verstehbarkeit des Lebens bezieht sich auch auf unsere Vergangenheit. Die eigene Herkunft und die Erfahrungen als Kinder und Jugendliche nachvollziehen zu können, ist besonders wichtig, weil unser ganzes weiteres Leben darauf aufbaut. Manchmal bemerken wir Lücken in diesem Fundament aber erst dann, wenn wir bestimmte Schritte gehen, z.B. selber eine Familie gründen oder uns mit einer Krankheit auseinandersetzen. Um die Lücken zu füllen, sind wir als Erwachsene auf Informationen angewiesen, die über unsere Erinnerungen und unser kindliches Verständnis von damals hinaus reichen. Diese Informationen bekommen wir aus den Erzählungen anderer Menschen oder aus Unterlagen, die Aufschluss über unsere Vergangenheit geben.


 

Was das konkret für die Aufbewahrung der Unterlagen von Kindern und Jugendlichen bedeutet, die einen Teil ihres Lebens in Institutionen aufgewachsen sind, lesen Sie nächste Woche.

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