Im Schulzimmer mit Oskar Lützow, Schulleiter und Sonderpädagoge

18.04.2018 Cornelia Rumo Wettstein,
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Oskar Lützow - Audio (mp3, 13.6 MB)

Ich habe klare Vorstellungen, wie ich mit Schülern in diesem Alter umgehe. Mit viel Respekt, soviel Struk­tur wie nötig, aber auch mit so vielen Freiheiten wie möglich. Die Jugendlichen sind mehrheitlich schul­gefrustet und haben schlechte Erfahrungen ge­macht. Ich will ihnen zeigen, dass Lernen auch Spass machen kann. Die Jugendlichen kommen mit 13, 14 Jahren zu uns, da kann ich keine komplette Per­sönlichkeitsveränderung mehr bewirken. Es geht mir vielmehr darum, den Grundstein zu legen, dass sie merken, ich lerne für mich, für meine Zukunft, und nicht für Herrn Lützow oder sonst jemanden. Daran will ich mitarbeiten, und das ist hier möglich.

Kein Beamter

Dass ich einen sozialen Beruf ergreife, hat sich nach dem Abitur herauskristallisiert. Ich wollte eigentlich Musiktherapeut werden, doch musikalisch hat es nicht ganz gereicht. Über die Musiktherapie kam ich auf die Sonderpädagogik. In Hannover habe ich mich zum Sonderschullehrer ausbilden lassen und in einer Institution für verhaltensgestörte Jugendliche die Praxisausbildung gemacht. Für mich war klar, dass ich kein Beamter werden will. Als das damalige Sonderschulheim im thurgauischen Fischingen in der Süddeutschen Zeitung inserierte, dachte ich mir, das schaue ich mir an. So kam ich, knapp 29 Jahre alt, in die Schweiz.

Harte Jungs

Ich unterrichtete nur vier Jungs, aber das war eine harte Nummer – Provokation, Gewalt, Arbeitsver­weigerung. Dass sie mich duzen konnten, war ein Fehler, den ich bis heute nicht wiederholt habe. Ge­gen Schluss wurde es besser, aber ich musste mir die Sporen abverdienen. Im Sommer 1993 kam ich ins Haus zum Kehlhof. Seitdem bin ich hier, bald sind es 25 Jahre. Viele im Team sind ebenso lange da. Das ist schon untypisch. Wir sind fast wie eine Fami­lie, obwohl Wohnhaus und Schule in separaten Ge­bäuden untergebracht sind. Das ist auch gut so, denn wenn die Jugendlichen zur Schule kommen, müssen sie ihre Probleme nicht mitnehmen.

Individuell arbeiten

Ich decke mehrheitlich alle klassischen Unterrichts­fächer ab. Unsere Jugendlichen sind zwischen 13 und 17 Jahre alt; leistungsmässig geht das Spektrum vom 3. bis zum 8. Schuljahr. Da bleibt eigentlich nur, dass man individuell arbeitet und die Kids auch mitbestimmen lässt. Deswegen gibt es den Wo­chenplan. So können die Jugendlichen in der Hälfte der Unterrichtszeit selbst entscheiden, welches Fach sie bearbeiten, was ihre Ressourcen gerade zu­ lassen. Diese Freiheiten sind mir wichtig, denn Ju­gendliche wissen eigentlich, was sie brauchen.

«Würde ich mit dem leistungs­orientierten Anspruch der Volksschule unterrichten, wären die Jugendlichen innerhalb kurzer Zeit weg.»

Oskar Lützow (55)
Sonderpädagoge, Haus zum Kehlhof

Interessen abholen

Wichtig ist auch, dass man die Jugendlichen bei ihren Interessen abholt. Ich muss wissen, wo sie stehen und setze da einen Schwerpunkt. In der Schnupperwoche müssen sie immer eine Geschich­te schreiben. Allein der Umgang mit dieser Aufga­benstellung sagt viel über die Jugendlichen aus. Eine Schülerin ist zwischenzeitlich bei der sechsten Seite und schreibt alles von Hand. Ich sehe, dass da eine Ressource vorhanden ist und lasse sie weiter­ schreiben. Ein anderer Schüler sitzt tatenlos vor dem PC. Ich gebe ihm 20 Wörter, die er dann in nur drei Sätzen unterbringt. Auch da sehe ich eine Ressource.

Kids vorwärtsbringen

Die Ressourcen wecke ich mit Respekt und Wert­schätzung gegenüber den Jugendlichen. Im Gegensatz zu einer Lehrperson an einer normalen Schule steht hier die Erarbeitung des Lehrstoffs in einer be­stimmten Zeit nicht an erster Stelle. Würde ich mit dem leistungsorientierten Anspruch der Volksschule unterrichten, wären die Jugendlichen innerhalb kurzer Zeit weg. Mir ist es wichtig, die Kids vorwärtszubringen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und damit Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Vieles geschieht intuitiv durch die Erfahrung, die ich im Beruf habe. 80 Prozent der Jugendlichen, die bei uns abschliessen, können eine Berufsausbildung beginnen, mit EBA oder EFZ. Ebenso viele ziehen ihre Lehre durch. Diese Zahlen zeigen, dass sie auch schulisch etwas mitnehmen.

Persönlicher Rahmen

Der Rahmen hier ist klein und persönlich, das gefällt mir. Auch das Alter der Kids sagt mir zu, ich diskutiere gerne, führe gerne Gespräche. Jung bleiben, aber nicht so tun, als ob ich es wäre, das ist wichtig. Ich bin von Dienstag bis Freitag in der Schule. Um halb sieben Uhr geht der Wecker, um halb acht Uhr gehe ich aus dem Haus, abends um sechs Uhr bin ich zuhause. Die Zeit ist intensiv. Die Mittagspause nutze ich für Administration und den Austausch mit den Kollegen. Am Montag arbeite ich vor allem zuhause, bereite die Wochenpläne vor, schaue Material durch und bin für ein bis zwei Stunden zur Vorbereitung in der Schule.

Schulbesuch für Eltern

Ich bin verpflichtet, die Akten der Jugendlichen zu lesen. Manchmal warte ich bewusst zu, weil ich mir zuerst selbst ein Bild machen will. Bei Erstgesprä­chen frage ich die Jugendlichen, warum sie ihrer Meinung nach hier sind. Bei manchen kommt viel, bei manchen wenig. Mit den Eltern habe ich aufgrund unserer Organisationsstruktur nicht so viel zu tun. Der Kontakt zu den Eltern läuft in erster Linie über die Sozialpädagogen. Einmal im Jahr organisie­ren wir einen Schulbesuchstag für die Eltern. Bei Bedarf gebe ich Auskunft, etwa zu Fragen rund um die Berufswahl.

Selbstverantwortung fördern

Wenn Jugendliche keinen normalen schulischen Lebenslauf ausweisen können, dann kann man davon ausge­hen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Deswegen ist auch das Bewerbungsschreiben so wichtig. Wenn sie erklären, dass es Schwierigkeiten in der Schule gab, sich die Situ­ation aber stabilisiert habe, seit sie im Kehlhof sind, wirkt das oft positiv. Ich bin überzeugt, dass Jugendliche durchaus Selbstverantwortung über­ nehmen können und von sich aus ler­nen. Man muss ihnen nur vermehrt Glauben schenken. Das gilt auch für die normale Schule, wo teilweise «ge­gen» Kinder Schule gemacht wird. Dieses System würde ich manchmal gerne auf den Kopf stellen.

Haus zum Kehlhof, Kreuzlingen

Die Institution bietet Platz für neun Mädchen und JUngen in der Oberstufe. Der Schwerpunkt liegt in der Betreuung und Schulung von Jugendlichen in den drei bis vier letzten Pflichtschuljahren, die Probleme in der Schule, im Verhalten oder in der Familie haben. Das Hauptziel des Aufenthalts ist das Erreichen eines Sekundar- oder Sunderschulabschlusses.

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