Warum Kinder sich (selbstbestimmt) erinnern sollten. Und wie Sie sie unterstützen können.

20.03.2024 Rahel Jakovina

Um sich zu erinnern, erhalten Kinder oft die Unterstützung ihrer Familie. Wenn diese die Aufgabe nicht voll übernehmen kann, müssen Fachpersonen helfen. Warum Erinnerungsarbeit wichtig ist und welche Vorteile ein kindgesteuerter Prozess mit sich bringt, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.  

Durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Erlebnissen und der eigenen Geschichte entwickeln wir Menschen ein besseres Verständnis für unsere Identität. Wir verarbeiten unsere Vergangenheit und wir lernen, negative Erlebnisse zu integrieren. Diese Erinnerungsarbeit fördert unsere Resilienz und unterstützt uns dabei, zukünftige Herausforderungen zu bewältigen und Visionen zu entwickeln. Deshalb ist Erinnerungsarbeit für Kinder wichtig, insbesondere für diejenigen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben oder in instabilen Verhältnissen leben.

Üblicherweise spielt die Familie eine grosse Rolle in der Erinnerungsarbeit. Bei Kindern, die nicht (nur) bei ihren Eltern aufwachsen, kann sie diese Rolle aber oft nicht mehr übernehmen. Deshalb liegt es an den Fachpersonen, mit den durch sie betreuten Kindern aktive Erinnerungsarbeit zu machen.

Kindgesteuerte Erinnerungsarbeit macht Sinn

Damit Erinnerungsarbeit möglichst viel nützt, muss sie kindgesteuert sein. Wir Erwachsenen tendieren dazu, aussergewöhnliche Momente für Kinder festhalten zu wollen: Geburtstage, Abschiede, Lager etc. Der Alltag, der für die Erfahrungen der Kinder eine viel grössere Rolle spielt, geht gerne vergessen.

Kinder sind jedoch die besten Experten ihrer eigenen Erlebnisse. Wenn sie die Führung übernehmen, stellen wir sicher, dass die festgehaltenen Erinnerungen für sie persönlich relevant sind. Das führt zu einem vollständigeren und bedeutungsvolleren Verständnis ihrer selbst und ihrer Welt. Indem sie selbst entscheiden, welche Erinnerungen festgehalten werden, üben sie zudem Autonomie aus. Dies stärkt ihr Selbstbewusstsein und das Gefühl der Kontrolle über ihre eigene Lebensgeschichte – was besonders für Kinder in vulnerablen Situationen von Bedeutung ist.

Unterstützung durch Erwachsene ist wichtig

Kindgesteuert bedeutet dabei nicht, dass wir Erwachsene bei der Erinnerungsarbeit keine Rolle spielen. Es liegt an uns, Kindern zur Erinnerungsarbeit anzuregen, ihnen Zeit und Raum dafür zu bieten und sie – insbesondere kleinere Kinder – bei der Umsetzung zu unterstützen.

Ein toller Nebeneffekt dieser Unterstützung ist, dass das gemeinsame Festhalten von Erinnerungen, Türen für bedeutungsvolle Gespräche öffnet. Auch liefert es Anknüpfpunkte für die weitere Beziehungsarbeit zwischen Betreuungspersonen und Kindern.

Methoden der Erinnerungsarbeit

Doch wie kann Erinnerungsarbeit geleistet werden? Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig. Man kann beispielsweise Fotoalben zusammenstellen, Tagebuch schreiben, allmählich eine Erinnerungsschatzkiste füllen oder einen Lebenszeitstrahl erstellen.

Wichtig ist, dass die Erinnerungen sowohl die Zeit als auch Ortswechsel wie Austritte oder Umzüge möglichst gut überdauern. Materielle Erinnerungsstücke fallen erfahrungsgemäss oft dem Platzmangel zum Opfer. Denn vulnerable junge Menschen haben in der Regel wenig Wohnraum zur Verfügung. Deshalb bieten sich digitale Erinnerungssammlungen an. Dazu zählt unter anderem die MemoryBox, die YOUVITA gemeinsam mit der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit entwickelt hat. Das ist eine Web-App, in der Kinder neue Erinnerungseinträge erstellen oder bestehende hochladen können.

Die langfristigen Effekte der MemoryBox auf das Erinnern untersucht derzeit eine Studie der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass Kinder die MemoryBox aktiv nutzen, um sich an nahe Menschen und Tiere zu erinnern, oder um aussergewöhnliche Ereignisse und bedeutsame Alltags- und Freizeitaktivitäten zu dokumentieren. Und sie zeigen auch, dass ein kindgesteuerter Prozess einen Unterschied macht: Für uns Erwachsene ist es oft überraschend, welche Erinnerungen Kinder festhalten und so in ihr Leben mitnehmen möchten.

Ben erinnert sich ans Fischen

Das zeigt das Beispiel von Ben*. Seine MemoryBox zeigt seine derzeit grösste Leidenschaft: das Fischen. Zum einen lädt er zahlreiche Fotos von Fischen hoch, auf deren Fang er stolz ist. Aber das Fischen reicht für Ben weit über das ausgeprägte Interesse für Arten und Grössen von Fischen hinaus: Er fühlt sich nicht nur bei seiner Familie oder in einer Institution zu Hause, sondern auch in der Welt des Fischens. Er dokumentiert in der MemoryBox auch seine Mitgliedschaft im Fischerverein, seine Vereinskolleg:innen, das Fischessen, seine verschiedenen Fischerruten und Fischertaschen und sein Fischereipatent. Er berichtet davon, dass ihm diese Vereinszugehörigkeit viel bedeutet und seine aktuelle Lebensphase prägt. Selbst, wenn Ben das Fischen irgendwann in Zukunft aufgeben wird, so bleibt diese Prägung doch erhalten. Dank seiner Erinnerungsarbeit wird er sie nachvollziehen können.

Erfahren Sie mehr

Anregungen für eine aktive Erinnerungsarbeit finden Sie in unserem Methodenkoffer.

Mehr Informationen zur MemoryBox und zu Mitwirkungsmöglichkeiten in der erwähnten Studie finden Sie unter diesem Link.

Schauen Sie sich hier das Erklärvideo zur MemoryBox an.

*Name aus Datenschutzgründen geändert.

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