Teil 2: Kinder- und Jugendhilfe damals

28.04.2021 René H. Bartl und Gitte,
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René H. Bartl blickt auf über 47 Jahre Soziale Arbeit zurück und hat über 700 Kinder und Jugendliche begleitet, die fremdplatziert wurden. Eine Frau, die früher ein «Heimkind» war, berichtet ihm in einem Gespräch über ihre Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe damals (Teil 1) und heute.

Bezieht Betroffene mit ein!

Gitte: Ich möchte ein paar Gedanken aus meiner Sicht als Mutter mitteilen. Ich war als Kind in den 70/80 Jahren im Heim und meine Kinder ab 2010.

Ich gründete eine Familie und bekam zwei Kinder. Mein Selbstwertgefühl war sehr gering. Mein Mann, ein Alkoholiker, kümmerte sich wenig um die Kinder, ignorierte, mobbte und schikanierte mich. In der Erziehung wurde ich allein gelassen, bald zeigten sich Schwierigkeiten. Als mein Sohn als Teenager gewalttätig wurde, beantragte ich Hilfe bei einem Jugendpsychiater. Ich musste, trotz grosser Not, sechs Wochen warten, bis ich einen Termin bekam. Nach der ersten Sitzung bekam ich erst zwei Wochen später wieder einen Termin. Danach hiess es, wenn es nicht besser wird, könne ich nochmals anrufen. Scheidung 2013.

In der Zwischenzeit wuchs die Not an. Meine Tochter kam mit 13 erstmals mit dem Gesetz in Konflikt. Die Polizei musste die KESB informieren. Beide Kinder wurden uns weggenommen und fremdplatziert. Mein Sohn kam ins Lehrlingsheim und meine Tochter ins Beobachtungsheim. Was mich am meisten betrübte war, dass die zuständigen Behörden und die Erzieher*innen keine Gespräche mit uns als Familie führten. Wir wurden von einem Tag auf den andern auseinandergerissen. Ich wollte Hilfe und nicht, dass auch meine Kinder fremdplatziert werden.

Meine Kinder benahmen sich weiterhin nicht so, wie das von ihnen erwartet wurde. Meine Tochter wurde für zwei Wochen in eine geschlossene Abteilung gesperrt. Ein Psychiater führte zweimal ein Gespräch mit mir. Dann hörte ich nichts mehr. Meine Tochter wurde wegen ihrem Benehmen von einem Tag zum anderem aus dem Heim geschmissen. Sie kam in eine Pflegefamilie. Die Pflegefamilie war sehr beschäftigt mit ihrem Bauernhof und mit auswärtigen Jobs. Meine Tochter sollte ihr Zimmer ordentlich halten, obwohl die Bauersleute eine grosse Unordnung im Haus hatten.

Meine Tochter hatte grosse Schwierigkeiten, die in der Vergangenheit geschehenen Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten. Sie zeigte das in grosser Rebellion. Als man nicht mehr weiterwusste, steckte man sie wieder für zwei Wochen in eine geschlossene Abteilung. Mein Sohn wurde zum Vater und zu mir gewalttätig. Die Behörden schalteten sich ein. Mal lebte er bei mir, mal im Lehrlingsheim, mal beim Vater, etc. Es folgte eine schwere Zeit und keine Hilfe von Institutionen. Ich verlor für eine Zeit den Kontakt zu ihm.

René Bartl: Vieles ist in Heimen besser geworden. Durch die Jahre, die ich mit Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagogen*innen zu tun hatte, bekam ich immer wieder den Eindruck, dass viele einfach einen Job machen. In meinem Umfeld erzählen mir Mütter, dass sie Not mit ihren Kindern haben, aber sie haben Angst davor, Hilfe zu holen, weil man ihnen die Kinder wegnimmt und diese dann fremdplatziert. Ich bin überzeugt, wenn man mehr die Familie als Ganzes ansieht und mit ihnen zusammen einen Weg sucht, würden diese mehr profitieren. Ehrlich und offen, mit Herz und Liebe zusammen zu arbeiten, das wäre doch ein besserer Weg. Ich bin mir bewusst, dass es notwendig sein kann, dass Kinder fremdplatziert werden müssen, wenn sie gefährdet sind. Aber auch dann darf man nicht vergessen, wie verletzlich ein Kind ist, das aus einer familiären Situation herausgerissen wird. Es braucht erst recht Wärme, Liebe, das Gefühl von Geborgenheit und Ermutigungen.

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