Auf dem Schulhausplatz mit Patrizia Müller, Sozialpädagogin in Ausbildung

28.02.2018 Cornelia Rumo Wettstein,
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Patrizia Müller - Audio (mp3, 11 MB)

Ich bin seit Geburt hochgradig schwerhörig. Ich ha­be ein Hörgerät und ein Cochlea­Implantat. Wenn ich beides nicht trage, dann höre ich gar nichts. Bis 18 hatte ich zwei Hörgeräte. Dann habe ich mich für ein Cochlea­Implantat entschieden. Ich finde, es sieht cool aus mit der Spule über dem Ohr. Wenn ich unter Leuten bin, die mich nur mit getragenen Hörhilfen kennen, fühle ich mich ohne Hörgeräte nicht wohl. Bei der Familie und bei Freunden, die mich auch kennen, wenn ich nichts höre, macht es mir nichts aus. Ich binde meine Haare bewusst zu­ sammen, dass man mich anschaut und meine Hör­hilfen sieht. Manchmal wünschte ich mir, dass ich nicht so gut reden würde, weil viele Leute dann ver­gessen, dass ich schwerhörig bin. Es ist und bleibt eine Beeinträchtigung.

«Durch die Arbeit hier merke ich, dass es nicht selbst­ verständlich ist, dass man gesund ist.»

Patrizia Müller (24)
Sozialpädagogin in Ausbildung, Schule für Gehör und Sprache, Zürich

Integrierte Schule

Oft werden schwerhörige Kinder von Anfang an in eine Sonderschule geschickt. Ich habe bis zur drit­ten Oberstufe die integrierte Schule an meinem Wohnort besucht. Bis zur sechsten Klasse lief es gut, auch dank der Unterstützung des Audiopädagogen. In diesem Alter geht es noch nicht so sehr darum, zu reden, sich mitzuteilen oder mitzuhören. Das Spiele­rische steht im Vordergrund. Wenn man wie ich sportlich ist und da mitmachen kann, hat man den Zugang zu anderen Kindern. Ab der Oberstufe zäh­len dann mehr Gespräche, gemeinsames Abhängen, über Musik reden. Da kam ich wegen meiner Hörbe­hinderung schon an Grenzen.

Reise nach Südamerika

Die Sonderschule war schon immer Thema, aber ich habe gewusst, ich will nicht ins Internat, ich will nicht weg von zuhause. Dennoch entschied ich mich für ein 10. Schuljahr in der Schwerhörigen­schule Landenhof, wo ich auch gewohnt habe. Da­ nach absolvierte ich eine KV­Lehre hier im Sekreta­riat. Die Lehrstelle war Zufall, das Schulsekretariat hat mich interessiert. Nach der Lehre habe ich eine Reise nach Südamerika gemacht. Ich habe dort in einem Kinderheim gearbeitet, wo auch drei gehör­lose Kinder waren. Nach einem weiteren Praktikum war für mich klar, dass ich Soziale Arbeit studieren will. Ich habe an der Fachhochschule in Olten einen Studienplatz erhalten. Seit Herbst 2015 bin ich in der Schule für Gehör und Sprache als Sozialpädagogin in Ausbildung angestellt.

Schule für Gehör und Sprache, Zürich

Die Schule für Gehör und Sprache ist eine Tagesschule mit Wohngruppenangebot für Kinder und Jugendliche mit einem erschwerten Spracherwerb durch eine Hörbeeinträchtigung und/oder durch eine Wahr­nehmungs­- und Verarbeitungs­problematik. Die Schule ist spezialisiert auf die Entwicklung von Kommunikation und Sprache. Unter Gleichbetroffenen werden die Kinder gefördert und ermutigt.

Nicht ganz «Heim»

Ich arbeite Teilzeit. Ich habe Abendschichten, ein­ mal habe ich Nachtdienst. Man begleitet und un­terstützt die Kinder auf den Gruppen, wenn sie nicht in der Schule sind. Ich würde nicht in erster Linie sagen, dass wir den Kindern ein Zuhause ge­ben, denn das haben sie. Wir sind ein Wocheninter­nat, am Wochenende gehen die Kinder nach Hause oder in eine andere Institution. Wir sind also nicht ganz «Heim». Ein Grund, warum die Kinder hier sind, ist die Schule und der weite Schulweg. Oft­ mals sind aber auch die Eltern überfordert. Hier im Internat haben die Kinder die Möglichkeit, geför­dert zu werden, sich zu entfalten und sich mit ihren Mitschülern anzufreunden.

Grenzen setzen

Hörbehinderte Kinder können heute dank der Tech­nik vermehrt integriert geschult werden. Bei den meisten klappt das gut. Viele unserer Kinder haben eine Mehrfachbeeinträchtigung. Jedes Kind hat sei­ne eigenen Bedürfnisse. Einige Kinder, mit denen ich zusammenarbeite, sind aufgrund ihrer Beein­trächtigung nicht so kommunikativ. Es sind die kleinen Dinge im Alltag, die zählen. Zum Beispiel hat ein autistisches Kind gelernt, selbstständig mit dem Wecker aufzustehen. Diese Fortschritte sind schön zu sehen. Am Mittagstisch, wenn es wild ist und die Kinder nicht auf uns hören, komme ich an Grenzen. Aber dann setzen wir auch Grenzen.

Unterstützung im Team

Ich arbeite hauptsächlich mit Jugendlichen, und da merke ich, dass der Altersunterschied teilweise ge­ring ist. Manchmal müssen wir Entscheide fällen, die nicht ohne sind. Ich will dann sicher sein, dass ich richtig handle, aber es fehlt mir das Fachwissen oder die Erfahrung. Das ist der Vorteil, wenn man in einem Team arbeitet, dann kann man sich absprechen. Ich habe den Bonus, dass ich in Ausbildung bin und eine Praxisanleiterin habe. Da darf ich mir auch Unterstützung holen. Man muss nicht alle Entschei­dungen allein treffen, sondern kann sich auf andere abstützen. Das schätze ich sehr.

Druck zur Anpassung

Die Ausbildung hat insbesondere meine Sicht auf die Gesellschaft ver­ändert. Im Büro gehst du rein und raus, überlegst dir nicht viel und regst dich vielleicht auch schneller auf. Durch die Arbeit hier merke ich, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man gesund ist. Und gleichzeitig ist jeder so individuell, wie er ist. Von au­ssen ist manchmal der Druck da, dass man sich anpassen muss. Ich glaube, die optimale Lösung dafür gibt es noch nicht. Wenn ich Menschen mit Beeinträchtigungen begegne, dann empfinde ich das nicht als etwas Schlimmes, sondern bewundere sie, wie sie damit umgehen.

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