Systemsprenger: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern

30.10.2019 Martina Valentin,
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Wenn von «Systemsprengern» die Rede ist, sind damit häufig Kinder und Jugendliche gemeint, die in der Kinder- und Jugendhilfe zwischen Institutionen und Psychiatrien hin und her gereicht werden. Wie das aussehen kann, zeigt der aktuelle Film «Systemsprenger» von Nora Fingscheidt sehr eindrücklich am Beispiel der 9-jährigen Benni. Für ihre ausdrucksstarke Darstellung hat Helena Zengel inzwischen schon Anfragen von Hollywood erhalten.

Bennis Verhalten fordert heraus und bringt die Personen, die sich für sie einsetzen, über kurz oder lang an die Grenzen der Belastbarkeit. In der Hoffnung, dass es jemand besser kann, wird das Kind weitergereicht. Institution, Psychiatrie, Pflegefamilie, Medikamente im Dauereinsatz oder zur Ruhigstellung, Einzelsetting und Sondersetting wechseln sich ab. Zum Schutz oder zur Förderung des Kindes, aber auch zum Schutz der betreuenden Personen oder der übrigen Person des Umfelds. Doch irgendwie scheint es kein passendes Angebot zu geben, dass langfristig funktioniert.

So geht es nicht weiter, war die Botschaft. Und es stimmt: So geht es tatsächlich nicht weiter mit einer Kinder- und Jugendhilfe, die für sich in Anspruch nimmt, das Kindeswohl ins Zentrum aller Bemühungen zu stellen. Inzwischen hat man begriffen, dass nicht das Kind in das Angebot passen muss, sondern dass flexible Angebote geschaffen werden müssen, die sich dem Kind anpassen. Standardisierte Angebot mit fixen Abläufen und knappen Ressourcen decken sich einfach nicht mit dem lebhaften, abwechslungsreichen und unvorhersehbaren Lebenslauf eines Kindes, das biografische Traumen zu bewältigen hat. Selbst für «normale» Kinder sind starre Strukturen ungeeignet.

Im Film wird auch einmal mehr deutlich, wie wichtig die Familie für ein Kind ist. Egal ob die Eltern, in diesem Fall die Mutter, physisch anwesend sind oder nicht, ihren Pflichten nachkommen, sich aktiv beteiligen oder das Kind enttäuschen: Für das Kind sind die Eltern und die Familie zentral. Lässt man diese Tatsache unbeachtet und nimmt nicht auch die Eltern, Partner und Geschwister mit ihren Bedürfnissen in den Fokus, hat dies weitreichende Folgen.

Sind Kinder wie Benni wirklich «Systemsprenger»? Schaffen sie es, wie das Etikett suggeriert, Systeme zu sprengen? Die Etikettierung sagt mehr über die Hilflosigkeit und Angst des Systems aus als über die Macht eines Kindes, ein System zu sprengen. Die meisten Institutionen, die ich kenne, sind nach dem Austritt eines Systemsprengers oder einer Systemsprengerin meist wieder zu ihrem Courant normal zurückgekehrt und liegen nicht in Einzelteilen am Boden.

Ich kenne keine Systemsprenger, sondern nur Kinder, die es in den traditionellen Angeboten und Sonderformen nicht geschafft haben, ihren Weg zu finden und das zu bekommen, was sie brauchen. Oder wie es Menno Baumann in seinem Buch «Kinder, die Systeme sprengen» gut formuliert: Jugendliche und Erziehungshilfe scheitern aneinander. Sie passen irgendwie (noch) nicht zusammen.

Anstatt von Systemsprengern zu reden, sollte man sich eher fragen, wie die Kinder- und Jugendhilfe aussehen muss, damit sie flexibel auf sich ändernde Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien reagieren kann und offen ist für Herkunftseltern sowie andere Personen, die für das Kind wichtig sind. Wie Netze gewoben werden können, die nicht durch fehlende Finanzierungen oder unklare Zuständigkeiten Löcher haben. Alle Akteure im Kindesschutz sind aufgefordert, sich dazu gemeinsam Gedanken zu machen. Das System muss flexibler sein, soll aber nicht gesprengt werden. Denn beim Sprengen entsteht immer ein Schaden – mindestens einer.

Systemsprenger Film

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