Ich hab's geschafft!

28.06.2021 René H. Bartl & Rudolf,
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Rudolf ist ein ehemaliges Heimkind aus St. Gallen. Heute macht er seinen Master. René H. Bartl, sein ehemaliger Heimleiter, blickt mit ihm zurück.

Was hat aus Deiner Sicht dazu geführt, dass Du in ein Heim eingewiesen wurdest?

Meine ersten Lebensjahre waren behütet. Meine Mutter war im Alter von 17 Jahren mit mir schwanger und lebte mit ihren beiden jüngeren Schwestern noch bei ihren Eltern. Ich hatte ein Nest und jederzeit jemanden, der sich mit Liebe um mich gekümmert hat. Bald zog meine Mutter aus. Sie trennte sich auch von ihrem Freund, meinem biologischen Vater. Danach folgten viele Umzüge und Partnerwechsel meiner Mutter. Die letzten Jahre vor der Einweisung in ein Heim waren sehr schwierig für mich, alles spitzte sich laufend zu. Ständig am Rande des Existenzminimums. Während meine Mutter tagsüber arbeitete, stand ich morgens allein auf und nahm mein Mittagessen bei Tagesmüttern ein. Ihr zweiter Ehemann versuchte eine erzieherische Funktion einzunehmen, drohte mir Gewalt an oder sperrte mich ein. Meine Mutter bekam davon nichts mit, sie war arbeiten. In der Schule wurde ich zum Aussenseiter. Es war für mich unaushaltbar. Nachdem auch die Lehrerschaft den Zustand und mein Verhalten in der Schule als untragbar erklärten, machten diese eine Gefährdungsmeldung.

Wie hast Du die Zeit im Heim erlebt?

Die Zeit in einem Heim ist nicht einfach. Ich war zuerst in einem kleinen Heim auf dem Land, die Gruppe war fast familiär, die Türen offen. Ich habe die Grenzen ausgelotet und musste erfahren, dass es noch andere Orte gibt, an denen Jugendliche platziert werden können. Dem folgte eine kleine Odyssee: Von einem Heim ins nächste, immer wieder Eskalationen. Aus einigen wurde ich sogar rausgeworfen, von der Polizei abgeholt und wieder zwischenplatziert. Zuletzt war ich auf einem dieser Segelschiffe für Jugendliche und nahm gelegentlich in einem «Einzelzimmer» mit Eisenstangen vor dem Fenster Platz.

Dann folgte die Nachricht von meiner Beiständin: Sie findet keinen geeigneten Platz mehr für mich! Ich musste mir etwas einfallen lassen, wenn ich eine Zukunft haben wollte. Ich nahm das Telefon in die Hand und rief dich, René, an. Du warst Leiter des Heims, in dem ich vor dem Segelschiff war. Ich schilderte dir meine Geschichte und erklärte dir meine Situation. Der Stein kam ins Rollen. Unter strengen Auflagen durfte ich wieder bei dir im Heim eintreten. Ich wusste, das war meine letzte Chance auf eine Perspektive und einen Start ins Erwachsenenleben.

Wie wurdest Du im Heim unterstützt?

Ich kann von Glück reden, dass du mich wieder aufgenommen hast. Meine Bezugsperson vom Heim hat mich darin unterstützt und begleitet, mich für einen Beruf zu interessieren und eine Berufslehre zu beginnen. Alle haben viel geleistet, um mich auf das Leben da draussen vorzubereiten. Die Betreuer setzten sich wirklich mit mir auseinander und coachten mich in diesem Prozess. Ich wusste, sobald ich 18 Jahre alt bin, kann ich austreten und mit allen Vor- und Nachteilen würde ich dann auf einen Schlag allein verantwortlich für mein Leben sein.

Wie hast Du den Übergang in die Selbständigkeit geschafft?

Du, René, spieltest damals mit dem Gedanken, ein begleitetes Wohnen einzurichten. Jugendliche wie ich, die sich allgemein gut entwickeln, eine Lehrstelle und somit einen selbstbestimmten Tagesablauf haben, sollten in einer eigenen Wohnung leben, um von dort aus die ersten Schritte in der Welt da draussen meistern können. Ich und ein anderer Jugendlicher waren die Ersten, die dieses Angebot nutzen durften. Von dort aus ging ich in die Lehre bzw. in die Berufsschule und machte meinen Haushalt selbst. Ich war praktisch selbstständig. Der grosse Vorteil war hier, dass ich jederzeit Unterstützung erhielt, wenn ich diese benötigte.

Etwa nach der Hälfte meiner Zeit als Lehrling konnte ich auf eigenen Wunsch aus dem begleiteten Wohnen ausziehen. Ich hätte noch länger bleiben können, hatte aber das Gefühl, dass ich bereit bin. Aufgrund meines knappen Lehrlingslohns zog ich in eine WG und nicht in eine eigene Wohnung. Ich schloss meine Lehre ab, suchte mir eine eigene Wohnung und konnte mich so Schritt für Schritt an mein neues, selbstständiges Leben gewöhnen. Im Anschluss an die Lehre arbeitete ich im Beruf und hängte noch ein berufsbegleitetes Studium an.

Was hat Dir geholfen?

Sicherlich die kontinuierliche Unterstützung durch das Team des Heims. Und auch du, René. Du hast mir als Heimleiter die Möglichkeit gegeben, mich im begleiteten Wohnen an ein selbstständiges Leben zu gewöhnen und du warst oft noch im Büro, als ich von der Arbeit nachhause kam, und fragtest, wie es lief. Wir hatten oft gute Gespräche, aus denen ich hie und da auch den einen oder anderen Tipp abholen konnte. Für mich waren diese Gespräche sehr wertvoll. Wir haben heute noch Kontakt. Meine Beiständin verwaltete mein Einkommen und meine Ausgaben und schaute, dass ich keine Schulden anhäufte und auch auf dieser Seite nicht in Schieflage kam.

Wo stehst Du heute und was sind Deine Perspektiven?

Heute bin ich 29 Jahre alt und lebe selbständig mit meiner Partnerin in einer Wohnung. Ich arbeite in einem Beruf, der mir Freude macht, habe Freunde, Hobbys und wünsche mir eines Tages meine eigene Familie. Zurzeit absolviere ich ein Masterstudium.

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