Wie daheim bei Hänsel und Gretel

19.12.2018 Erika Kronabitter,
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Wie daheim bei Hänsel und Gretel

Muss alles perfekt sein? Bei Marcel war es nicht so: «Ich bin ein Kuckuckskind», sagt er. «Kuckucke lassen ihre Jungen in fremden Nestern aufwachsen. Meine Eltern machten das auch so.» Marcels Eltern haben ihn abgelehnt. «Es war wie bei Hänsel und Gretel», erzählt Marcel. «Sie haben mich einfach an einen fremden Ort gebracht und sind weg. Einfach weg. Damals war ich vier.»

Manchmal rührt das Schicksal junger Menschen tatsächlich an das von Kuckuckskindern mit Rabeneltern. Dann, wenn sie fremd untergebracht werden müssen, weil sie nicht in ihrer Familie bleiben können. Es gibt genügend Hänsel- und Gretel-, Schneewittchen- und Pechmarie-Beispiele.

Aber zum Glück gibt es die Kinder- und Jugendhilfe, die sich der jungen Menschen annimmt und ihnen den notwendigen Schutz gibt. Wie es die Märchen zeigen, gibt es fast ein Happy End: Zum Beispiel im Haus «Fühl dich wohl». Dort habe ich Marcel vor 13 Jahren kennen gelernt. Als vierjährigen kleinen Buben, der sich sofort auf meinen Schoss gesetzt hat. Wie daheim, wenn die Oma kommt. Und im Haus «Fühl dich wohl» hat sich Marcel wirklich wie daheim gefühlt.

Die Betreuerinnen und Betreuer haben ihn durch die Hochs und vielen Tiefs getragen. Aber es hat geklappt. Sogar eine Lehre hat er begonnen.

Rabenvater Staat

Fast-wäre es Happy End gewesen. Wenn, ja wenn da nicht die gesetzliche Lage wäre. Vor kurzem wurde Marcel 18. 18 zu sein, bedeutet, erwachsen zu sein. Zumindest für den Staat. Der Staat verlangt, dass die Jugendlichen mit der Volljährigkeit das fremde Nest verlassen müssen, denn für Erwachsene muss er nicht mehr bezahlen.

Manche der jungen Menschen sind froh, dass sie in eine eigene Wohnung ziehen können. Für manche 18-Jährige ist es zu früh, sie würden gerne länger Kontakt mit ihren BetreuerInnen haben: Das Leben in Selbständigkeit ist nämlich härter als gedacht. Vor allem, wenn man keinen familiären und finanziellen Rückhalt hat und die Wohnungen unerschwinglich sind. Ein Zurück gibt es dann nicht mehr. Nicht in die Jugendhilfe und nicht in die ursprüngliche Familie. Vater Staat hat seine Schuldigkeit getan. Rabenvater Staat. Diese Jugendlichen haben nicht die gleichen Chancen wie andere. Denn wer von Ihnen, liebe LeserInnen, setzt sein Kind mit 18 auf die Straße und hat danach keine Ressourcen, keine Zeit, kein offenes Ohr für den Kummer, die Sorgen des jungen Erwachsenen?

Alles ist bergab gegangen

«Jetzt hab‘ ich grad die Lehre abgebrochen», erzählt Marcel. «Ich habe Einzelhandel gelernt und würde jetzt ins dritte Berufsschuljahr kommen. Es hat mit dem Chef nicht mehr hingehau‘n. Und jetzt ist es halt vorbei. Für mich ist alles bergab gegangen.»

Multiplizierte Unfähigkeit

Da ist einerseits die Unfähigkeit von Eltern, ihren eigenen Kindern ein umsorgendes Daheim zu bereiten. Da ist andererseits die Unfähigkeit von Firmenchefs, auf ein wohlwollendes Arbeitsklima zu achten. Und schlussendlich die Unwilligkeit des Staates, ein gelungenes System so weit aufrecht zu erhalten, wie es junge Menschen, die schon auf Grund ihrer Herkunftsfamilie benachteiligt sind, benötigen würden.

Ein wenig «unter die Arme greifen»

Das «Kuckucksnest» versammelt Erzählungen und Berichte von jungen Menschen und gibt einen Einblick in das Schicksal von jungen Erwachsenen nach der Jugendhilfe. Sie werden üblicherweise als «Care Leaver» bezeichnet. Die Lektüre dieses Buches kann Sie als Leser/innen für die schicksalhaften Einflüsse, welche die Gesundheitschancen eklatant verändern, sensibilisieren. Die lebensnahen und persönlichen Schilderungen sollen aber auch Entscheidungsträger für mögliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen von Care Leavern sensibel machen. Aus «Care Leavern» sollten keine «Care Looser» werden.

 

Das Buch „Kuckucksnest“ ist beim Fonds Gesundes Österreich erschienen und kostenlos erhältlich: fgoe@goeg.at , www.fgoe.org

 

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