Soziale Institutionen und Psychiatrie – eine gelungene Liaison

05.02.2020 Dr. med. Matthias Luther,
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Kinder und Jugendliche, welche in sozialen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, zeigen häufig ein sehr herausforderndes Verhalten. Lange Zeit hat man versucht, diesem vorwiegend mit pädagogischen Methoden zu begegnen. Ein Trugschluss, wie sich gezeigt hat. Psychotherapeutische Unterstützung wurde meist erst dann angefragt, wenn das sozialpädagogische Team am Ende seiner Möglichkeiten und Kräfte war. Dann war es jedoch meist zu spät. Leider zeigte die Erfahrung, dass vielfach auch eine Psychotherapie, eine medikamentöse Behandlung oder gar ein psychiatrischer Spitalaufenthalt dieser Kinder und Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt die Platzierung nicht mehr retten konnte.

Ungewollte Negativspirale

Stattdessen kam es häufig zu einer Negativspirale: nächst intensiveres Betreuungsangebot, stärkere Medikamente, erneuter Abbruch, wiederholter Aufenthalt in der Psychiatrie. Nicht selten verbunden mit dem bekannten «Drehtür-Effekt»: raus aus der Kinder- und Jugendhilfe, rein in die Psychiatrie und dann wieder zurück in die Kinder- und Jugendhilfe. Die Chancen auf Erfolg wurden kleiner, die Hilflosigkeit stieg. Doch wie kam es soweit? Haben die Sozialpädagogen die falschen Methoden gewählt oder zu lange gewartet, bis sie Hilfe holten? Haben die Psychologen und Psychiater das Problem nicht gut genug erkannt und nicht ausreichend therapiert? Oder werden die Kinder tatsächlich immer problematischer und sind nirgends mehr tragbar? Schuldzuweisungen helfen hier nur wenig. Eine genauere Erforschung der Ursachen und eine gesamtheitliche Herangehensweise dagegen sehr.

Erhebung zu seelischen Belastungen der Kinder

Eine schweizweite Erhebung (MAZ-Studie; Modellversuch Abklärung und Zielerreichung, Schmid et. al, 2013; Zusammenfassung) hat gezeigt: Kinder in sozialen Institutionen schätzen ihren seelischen Belastungsgrad höher ein, als den der Durchschnittsbevölkerung dieses Alters. Er ist vergleichbar mit dem von Kindern, die sich in kinderpsychiatrischen Kliniken befinden.

Über 60 Prozent der erfassten Kinder in sozialen Institutionen erfüllten die Kriterien von mindestens einer psychiatrischen Diagnose und über 80 Prozent der befragten Kinder berichteten von traumatischen Erlebnissen in ihrer Vergangenheit. Auch der Blick auf das Herkunftssystem dieser Heimkinder zeigte erschreckende Zahlen: 28 Prozent Suchtproblematik der Eltern, 30 Prozent psychiatrische Erkrankung der Mütter, 11 Prozent der Väter im Gefängnis (Schmid et al., 2013).

Eine mögliche Lösung

Aufgrund dieser Ergebnisse wurde im Raum Basel ein passendes Konzept entwickelt: die Liaison (franz.: Verbindung). Es finden regelmässig Fallbesprechungen statt, bei welcher Fachpersonen der Wohngruppe zusammen mit Fachpersonen aus der Psychiatrie die Situation der Kinder besprechen und gemeinsam den interdisziplinären Bedarf der Kinder erarbeiten. Dabei werden sowohl sozialpädagogische als auch therapeutische Massnahmen geprüft. Elemente des Konzepts sind darüber hinaus niederschwellige psychiatrische Abklärungen, aufsuchende psychiatrische Notfallversorgung rund um die Uhr und Weiterbildungsangebote zu kinderpsychiatrischen Themen.

Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten ist entstanden: Institutionen werden tragfähiger, Übergänge in und aus der Psychiatrie können durch die Kenntnis des Falls besser den Bedürfnissen der Kinder angepasst werden, Chronifizierungen werden reduziert, das Verständnis für den jeweils anderen Fachbereich ist gewachsen.

Möglich geworden ist diese intensive Zusammenarbeit unter anderem dank eines dualen Finanzierungskonzepts, das vom Kanton Basel-Stadt unterstützt wird: Die Kosten für die Beratung der Fachpersonen erfolgt über das Budget der Kinder- und Jugendhilfe, die therapeutischen Massnahmen, die direkt dem Kind zu Gute kommen, über dessen Krankenkasse.

Evaluation des Liaisonkonzepts

Eine aktuelle Evaluation des Liaisonkonzepts aus dem Jahr 2019 zeigt: Das Personal der Kinder- und Jugendinstitutionen erachtet die Zusammenarbeit mit den Fachpersonen der Kinder- und Jugendpsychiatrie als sehr hilfreich. Von den befragten sozialpädagogischen Fachpersonen sind 76 Prozent mit der Umsetzung des Konzepts zufrieden, 96 Prozent schätzen das gemeinsame Fallverständnis und die gemeinsame Hilfeplanung.

Es scheint, dass die Lücke zwischen Psychiatrie und Institutionen etwas kleiner geworden ist. In der Hoffnung, die Leistungen noch besser den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen anzupassen, entwickeln wir uns ständig weiter und sind im Austausch mit Institutionen und Betroffenen.

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