Teil 1: Kinder- und Jugendhilfe damals

31.03.2021 René H. Bartl und Gitte,
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René H. Bartl blickt auf über 47 Jahre Soziale Arbeit zurück und hat über 700 Kinder und Jugendliche begleitet, die fremdplatziert wurden. Eine Frau, die früher ein «Heimkind» war, berichtet ihm in einem Gespräch über ihre Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe damals (Teil 1) und heute (Teil 2, folgt).

Schaut genauer hin!

Mit meinen Gedanken möchte ich dazu beitragen, dass Heimkinder gehört und beachtet werden!

Seit meinem vierten Lebensjahr war ich bei verschieden Pflegeeltern. Kurz vor meinem neunten Lebensjahr brachte mich meine Mutter ins erste Kinderheim. Das war im Jahr 1972. Das war keine gute Zeit. Heute bin ich selbst Mutter von zwei Kindern. deren zwei Kinder auch wieder fremdplatziert wurden. Ich muss leider feststellen: Bis heute hat sich nicht viel geändert. Ich habe die Hoffnung, dass meine Geschichte zum Nachdenken anregt. Kinder, die aus familiären Gründen fremdplatziert werden, brauchen Liebe und Wertschätzung. Ich habe das während meiner Heimzeit nicht erlebt.

Etwa acht Kinder teilten einen Schlafsaal. Es gab nie eine gute Nacht - Geschichte oder ein Gebet, keine Umarmung oder sonst irgendein gutes Wort. Diese Zeit war geprägt von Einsamkeit und Ängsten. Ich erlebte keinen Trost, keine Geborgenheit, keine Hand, die mich erwärmte. Ich fühlte mich sehr verloren. Es gab niemanden der mir sagte, dass ich ein liebes Kind sei. Niemand erklärte mir, warum ich im Heim war, etc. Nach ca. 16 Monate holten mich meine Mutter und eine zuständige Person der Vormundschaftsbehörde ab und sie brachten mich in ein kostengünstigeres Heim. Bis 1979 verbrachte ich sieben Jahre in diesem zweiten Heim. Aber auch dort war es nicht viel anders. Ich hatte zwar viel mehr Freiheiten und ein Pferd, das ich betreuen und reiten durfte, es gab gemeinsame Ferien und man unternahm viel mehr als im ersten Heim. Aber ich blieb dennoch einsam. Es war niemand da, dem ich vertrauen konnte. In dieser Zeit verbrachte ich viele Wochenenden und Ferien bei einer Bauernfamilie. Unbemerkt vom Heim fanden dort regelmässig sexuelle Übergriffe statt. Ich war inzwischen 13 Jahre alt. Die Übergriffe an sich empfand ich nicht als schön, aber die Nähe zum Bauer und zur Bäuerin (beide führten mich in die sogenannte Liebe ein) fand ich schön. Ich sehnte mich nach Nähe, nach Wärme, etc. Meine damalige Fürsorgerin wusste von den Übergriffen. Ich bat sie, nichts zu sagen. Sie hielt sich daran. In einem Bericht schrieb die Heimleitung, dass sie eine gute Bauernfamilie für mich gefunden haben. Offenbar war das für alle beruhigend.

Als ich die Schule mit 17 Jahren beendet hatte, musste ich das Heim ohne weitere Begleitung und Unterstützung verlassen. Ich entschied mich für eine Anlehre im Gastgewerbe und absolvierte danach eine 2-jährige Lehre zur Servicefachangestellten. Nach der Lehre arbeitete ich an verschiedenen Orten. Später bewarb ich mich in einer Tageskrippe. Ich wollte Kleinkindererzieherin werden. Ich bekam eine Praktikumstelle und habe die Aufnahmeprüfung bestanden. Die Verantwortlichen sagten mir, da ich ein Heimkind war, würde ich diese Arbeit nicht verkraften. Schon wieder bekam ich zu spüren, dass ich ein negatives Kind (damals Fräulein) bin. Keine Chance, in der Gesellschaft abgestempelt.

Ich hatte in den Heimen so oft verschiedene Erzieher*innen. Eine richtige Bezugsperson fehlte mir. Mein Start ins Leben gestaltete sich als sehr schwierig. Innerlich war und blieb ich lange zerbrochen. Ich bekam kein Rüstzeug mit auf meinen Lebensweg. Ich denke, der Beruf als Sozialpädagoge*in ist eine Berufung und eine grosse Herausforderung. Man braucht dazu ein grosses Herz und viel Liebe, Geduld und Verständnis. Und man muss genau hinschauen, um zu erkennen, was Kinder wirklich brauchen.

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