«Ich finde die Abschiedsrituale wichtig»

08.06.2023 Daniela Martin

Sechs Jugendliche im Wohnheim Varnbüel zogen im letzten Jahr in eine Aussenwohnung. Das war ein grosser und einschneidender Schritt für sie. Über ihre Erfahrungen während dieses grossen Übergangs erzählen zwei junge Frauen in zwei Interviews. Lesen Sie hier das erste Interview mit Emma.

Neben den alltäglichen Übergängen fanden im Jahr 2022 für sechs Jugendliche auch grössere, einschneidende Übergänge statt – nämlich der Übertritt vom Wohnheim in die Aussenwohnung. Wie zwei junge Frauen diesen Übergang persönlich erlebt haben, haben sie in zwei Interviews erzählt.

In diesem Interview berichtet Emma. Sie ist 18 Jahre alt und lebte zweieinhalb Jahre im Wohnheim Varnbüel.

Wie geht es dir seit deinem Umzug in die Aussenwohnung (AWG)? Was hat sich verändert im Gegensatz zum Leben im Wohnheim?

Es geht mir gut, ich bin autonomer geworden. In der Aussenwohnung erlebe ich eine grössere Selbstbestimmung. Im Gegensatz zum Wohnheim bin ich nicht mehr an Strukturen gebunden. Ich gebe mir jetzt eigene Strukturen.

Was hat dir beim Übertritt Sicherheit gegeben?

Es gab mir Sicherheit, dass ich im Voraus wusste, wer meine neue Bezugsperson wird, in welche Wohnung ich umziehe und wer meine zukünftige Mitbewohnerin sein wird. Es war gut, dass mein Übertritt sorgfältig und genug früh geplant wurde. Es gab mir auch Sicherheit, dass mein Vater da war: emotional und beim Umzugstag.

Hast du auch Hausforderungen beim Übertritt erlebt?

Ja. Für mich war der Übertritt eine Herausforderung, weil ich zweieinhalb Jahre im Wohnheim gelebt und dadurch das Heim sehr liebgewonnen habe. In der Aussenwohnung habe ich im Alltag automatisch weniger Kontakt mit anderen Menschen, weil weniger Jugendliche und Erwachsene da sind. Im Heim war immer etwas los. Wenn ich dort Ruhe brauchte, konnte ich mich in mein Zimmer zurückziehen. In der Aussenwohnung zu leben, hat für mich gute und nicht so gute Seiten. Eine andere Herausforderung war die Ungewissheit, ob ich es schaffen werde. Ich habe mir Fragen gestellt wie: «Schaffe ich es, in der Aussenwohnung zu leben?» oder «Schaffe ich es ohne enge Unterstützung vom Team zur Arbeit zu gehen?» Im Wohnheim gab es mehr Strukturen und ich wurde eine Zeit lang geweckt, damit ich nicht verschlafe.

Welche Faktoren waren für dich beim Übertritt vom Wohnheim in die Aussenwohnung hilfreich?

Das ich früh genug den genauen Zeitpunkt meines Übertritts erfahren habe. Dies gab mir Klarheit und Erleichterung und brachte mir Vorfreude. Gut war auch, dass ich durch Gespräche mit anderen Jugendlichen und mit dem Team schon im Voraus wusste, wie es in der Aussenwohnung sein wird. Und die ganzen Vorbereitungen waren hilfreich für mich: die Gespräche mit meiner Bezugsperson, das Aussuchen und Einkaufen meiner Möbel und die Umzugsplanung.

Wie hast du die Unterstützung durch das Team und durch deine Bezugspersonen im Heim und in der Wohnung während der Übergangszeit erlebt?

Ich habe mich von beiden Bezugspersonen gut unterstützt gefühlt. Die Sonderregelungen während der Übergangszeit im Wohnheim finde ich gut. Vor dem Übertritt darf man mehr Ausgangsabende beziehen. Ich finde die Abschiedsrituale wichtig, vor allem das gemeinsame Abschiedsessen.

Wie erlebst du die Unterstützung in der Aussenwohnung im Vergleich zum Wohnheim?

In der Wohnung werde ich besser unterstützt als im Wohnheim. Ich kann jetzt selbständiger sein und mir dann Unterstützung holen, wenn ich sie brauche. Es ist immer jemand da, wenn ich Hilfe brauche, tagsüber die Bezugsperson in der Wohnung und nachts und am Wochenende das Wohnheimteam. Ich denke, dadurch, dass es weniger Regeln in der Aussenwohnung gibt, entstehen automatisch weniger Diskussionen und damit auch weniger Widerstand. Persönlich kann ich seit meinem Übertritt in die Aussenwohnung Unterstützung besser annehmen, weil ich selbständiger und autonomer leben kann.

Inwiefern bist du seit deinem Umzug in die Aussenwohnung selbständiger geworden?

Während meiner Zeit im Varnbüel und vor allem in der Aussenwohnung habe ich eine grosse Veränderung durchgemacht. Früher war ich extrem schüchtern und zurückhaltend, habe kaum einen Pieps herausgebracht. Jetzt bin ich viel offener und meistere meinen Alltag selbständig.

Was denkst du, brauchst du beim Austritt aus der Aussenwohnung?

In erster Linie einen Job, damit ich mein Leben finanzieren kann.
Wichtig ist auch eine Ansprechperson für alle meine Fragen und Anliegen während der Übergangszeit. Das Angebot für Care Leaver:innen finde ich gut, weil dann auch nach meinem Austritt jemand für mich da sein wird.


Das Interview führte Daniela Martin. Sie arbeitet im Wohnheim Varnbüel in St. Gallen, wo Jugendliche und junge Erwachsene vorübergehend ein Zuhause finden. Die ausgebildete Sozialpädagogin ist stellvertretende Organisationsleiterin und verantwortlich für das Angebot «Aussenwohnung». Jeweils zwei junge Menschen leben gemeinsam in einer 3-Zimmerwohnung. Sie werden von einer Fachperson in ihrem Zusammenleben und auf dem Weg in die Selbständigkeit begleitet.

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